„Warum spinnen die so?“

Mutmaßungen eines Unbeteiligten

Einstimmung

„Es wurde eben ne Frage gestellt,“ stellt der junge Mann mit dem langen, roten Bart fest,“ darf man eine Frau die kein Kopftuch trägt heiraten.“ Offenbar haben nicht alle im Publikum zugehört. Weshalb er den Satz noch einmal wiederholt. Betont lässig tut er das, über sämtliche Zweifel erhaben; als sei die Frage selbst schon ihre eigene Antwort. So rasch, wie vermutet, lässt sich das ´Problem´ dann aber doch nicht lösen. Es soll auch keins sein, das merkt man dem wirren ´Vortrag´ an, dennoch braucht der ´Experte´ ganze dreizehn Minuten, um damit irgendwie fertig zu werden. Fast vierzehn Minuten gehen dafür drauf, die folgende wichtige Frage richtig – rechtgläubig – zu beantworten: “Warum dürfen Männer Frauen nicht die Hand geben im Islam“ (so der Wortlaut). Etwas mehr als sechs Minuten reichen indes, um klar zu machen, dass ein Mann mehrere Frauen heiraten darf. Sicher haben Sie schon von dem Mann gehört, der uns das alles (und noch viel mehr) im Koran kompatiblen Sinne verklickert. Pierre Vogel heißt er. Gelegentlich lädt man ihn zu Talkshows ein. Da gibt er sich ein wenig moderater. Doch kaum weniger allwissend. Vogel gehört zu der Sorte Marktschreier, die als verhinderte Aufsteiger mittels seiernder Omnipräsenz den Menschen das Einmaleins der Unfehlbarkeit im halbgaren Dutzend um die Ohren sülzen. Wer davon nicht genug bekommen kann: bloß den ganzen Namen bei You Tube eingeben. Das Portal spuckt dann so viele ´Gigs´ aus wie der Hering Eier legt. So kriegt man locker einen ganzen Tag rum, hat man nichts anderes – nichts Besseres – zu tun. Was ganz gewiss für viele von den Fans gelten mag.

Als ich diesen komischen Vogel das erste Mal im Fernsehen sah, war ich noch im Irrtum. Ich hielt den Auftritt für drittrangigen Klamauk und den Typen selbst für einen etwas unbeholfen agierenden Comedian: der Anfänger-Clown bei ´Deutschland sucht den Mega-Muslim´. Dann aber versicherte eine leise Frauenstimme im Off, das er es ernst meint: das der tatsächlich glaubt, was er den Versammelten just zurief, denn er rief die ganze Zeit, obwohl man ihn auch so gehört, weniger verstanden hätte; immer vorausgesetzt, das man den Verstand noch besitzt, den dieser dumpfgare Laienprediger mit jedem gesprochen Satz auf´s Äußerste beleidigt. Es ging damals, meine ich mich zu erinnern, um den unvermeidlichen weiblichen Kopflappen. Das gehört so zu den Sachen im Islam, die superwichtig bleiben. Darob wurde schließlich in endloser Folge ´erörtert´, was man sonst noch tun muss oder nicht machen darf, damit man(n), statt in der Hölle zu landen, auch wirklich in den Himmel kommen kann. Es geht überhaupt immer nur um das eine, in schnöder, öd-blöder Variation: was darf ich und was nicht. Im Grunde beschäftigt sich ein solcher Mensch mit nichts anderem mehr und er hat es, so viel steht fest, viel einfacher als der doofe Rest der Menschheit: es steht nämlich schon alles drin im heiligen, allein gültigen, allein seligmachenden Buch. Es bietet einfache Antworten auf simple Fragen. Dieser ´Simplicissimus´ lügt nie, also friss es, Frevler; oder brate ewiglich im Höllenfeuer. Freundlicher formuliert: musst du nur immer ablesen oder gleich auswendig lernen, weißt du. Daher blättert der Ex-Boxer und Studienabbrecher Vogel (zwei Mal: einmal Lehramt, dann arabische Sprache) in seinen ´Lehrvideos´ auch gerne im Allerheiligsten herum um so das ganze Arsenal an Geboten und Verboten im Vollbesitz seiner geistigen Unzurechnungsfähigkeit herunterzunudeln: leider nicht auf hocharabisch sondern in Deutsch; Marke ´krass und neunmalklug´. Daran hat man die Emporkömmlinge zu allen Zeiten erkannt: sie schwätzen sich um Kopf und Kragen – und merken es nicht. Wer das länger als zwei Minuten aushält, der wird gewiss der Richtige sein; er darf übertreten. Und Pierre Vogel hält weiter Rede um Rede, steter Tropfen höhlt den Stein, und der Stein der Weisen ist der seine und also radebricht er auch in Zukunft was das Zeug hält, in einer T(ort)our, ohne das ihn hierzulande jemand für den notorischen Ohrenschmerz, den er damit verursacht, zur Rechenschaft zöge. Es gibt ein Recht auf öffentliche Rede, aber keines, das die entsprechenden Blindgänger und Blendgranaten unter Strafe stellt. Das gehört so zu den Tücken unserer vielgerühmten Meinungsfreiheit: wer meint, das er eine eigene Meinung habe, darf das, was er dafür hält, im dauernden Dutzend auskotzen. Wer sich keine eigene bildet oder macht, schlürft den Kodder umso gieriger in sich hinein.

Vogel ist beileibe nicht der Einzige, der uns auf diese Weise den letzten Nerv raubt. Und sie alle, die ihm nacheifern, werden nicht die Einzigen bleiben. Sie, um die es in der folgenden Betrachtung gehen soll, haben der Welt leider Gottes einiges zu erzählen. Und sie tun es wie der Vogel. Bis zum Erbrechen. Und wie dieser blöken, bellen und blaffen sie die autistischen Verirrungen nur so aus sich heraus und unter´s blöde Volk. Ob im Netz oder auf dem Marktplatz, in der Fußgängerzone oder in einem der Begegnungszentren, die ihnen die Gottlosen Hunde zur Verfügung gestellt haben: der Zorn des Allmächtigen duldet keinen Hinterhof.

Und wir? Der aufmerksame, vor allem geduldige Zuhörer merkt sofort bzw. immer wieder, hört er in die ´Reden´ rein: da hat´s jemand aber so richtig nötig. Da hat sich offenbar mächtig was angestaut, bis zum platzen, das muss entsprechend raus, immer öfter, immer zwingender und so laut und vernehmlich, das es noch der letzte der hundertmal und mehr verfluchten Schweinefleischfresser da draußen hört. Die sollen nämlich erzittern vor der Gewalt des Erhabenen, des Einzigen, als dessen heiseres Sprachohr die Eiferer sich allen Ernstes selbst begreifen. Dementsprechend forsch fallen ihre kehlig vorgetragenen, immer austauschbaren Tiraden aus: herunter geleiert im geifernden Brustton einer festen, durch keinerlei Einwände mehr zu erschütternden Überzeugung, an der sie hängen wie ein Junkie an der heißen Nadel. Zugegeben: das alles entbehrt nicht eines gewissen Unterhaltungswertes. Es kommt halt darauf an, mit welcher Erwartung man an die Sache ran geht. Wer auf Kriegsgeheul und Kettenrasseln steht, kommt bei Ihnen voll auf seine Kosten. Sie geben sich überhaupt gern grimmig, grantig und so richtig entschlossen. Kämpfer wollen sie sein; heilige welche – echte Dschihadisten eben. Und sie wissen, trotz ihrer Jugend, ein für alle Mal Bescheid. Ihrer an Gangsta-Rap erinnernden, ärmlichen Diktion hört man sehr deutlich den zweiten Bildungsweg an, denn mit den vielen ersten wollte es nicht so recht klappen. Also rufen sie ständig, statt zu reden; zetern statt zu sprechen – und warnen, drohen, fluchen: was das Zeug hält. Immer im vor stolzer Männlichkeit geblähten Black Music Style, sodass man fast geneigt ist, im Takt der Erregung fröhlich mit zu wuppen (´richtige´ Musik hat der Mohammed verboten). Ihre Freiluft-Versammlungen gleichen, auf den ersten Blick, den Wahlkampfauftritten unserer großen Parteien, die kriegen kaum mehr Leute auf die Beine, aber bei denen wird nicht so laut geschimpft, das haben Kommunisten und Nationalsozialisten seinerzeit noch besser hinbekommen. Wollt ihr den totalen Islam? Die rechtgläubige Internationale? Ja, man. Hau rein, du Hurensohn.

Die Entertainer von Islamistan in Eurasia zeigen uns übrigens auch äußerlich, was Sache ist. Gestern noch in coolen, Statuskonformen Markenklamotten unterwegs, hüllen sie sich jetzt in lange, Jutesäcken ähnelnde Gewänder, und statt der teuren Adidasturnschuhe tragen sie ab sofort Sandalen. Auch im europäischen Winter, aber mit Socken von der Konkurrenz (ich glaube nicht, dass die in irgendeinem Emirat von irgendeinem pakistanischen Gastarbeiter angefertigt wurden). Anstelle der unvermeidlichen Baseball-Mütze ziert ab sofort ein rechtgläubiges Käppchen den fromm umfieberten Schädel. Alles muss stimmen. Manche von ihnen haben sich, passend zum Zottelbart, noch eine ordentliche Matte nachwachsen lassen, so sieht ein wackerer Taliban eben aus, aber so kann man die Eiferer auch leicht mit irgendeinem Hindu-Hippie aus den Siebzigern verwechseln: Müsli-Freak meets Muslim-Man. Schräg, das. Doch während ersterer den eigenen Fanatismus längst ins bürgerliche Nirwana hinüber gerettet hat und sich mit Ökostrom und humaner Tierhaltung begnügt, treibt letzteren der Wille eines zornigen Gottes unentwegt an und unerlöst herum. Er versichert dir mit erhobenem Zeigefinger das ein Mann, ein Muslim (ist beides identisch) Bart trägt, tragen muss; und das (nicht warum) unvermummte Frauen in der Hölle landen werden. Alles an ihm ist im Recht: im einzigen, im für immer und ewig richtigen. Total richtiges Recht eben, denn es gibt auch keinen Gott außer Gott. Sie alle, die gestern noch missmutig in den Tag hinein lebten und vor Frust am liebsten gekotzt und geschrien hätten, Frührentner im Mackermuff, Halbstarke auf Frustbeule, rotzen uns jetzt ihre Phrasen und Parolen wie Hagelkörner um die müden Ohren. Sie wissen wirklich alles, und immer besser als alle anderen und sie glauben auch ganz fest daran; daneben zählt nichts mehr. Die Hölle, vor der sie weniger warnen, die sie vielmehr in notorischer Besessenheit allen Falschgläubigen, Halb, – und Dreiviertel-Folgsamen, allen Ketzern und Verrätern mit Schaum vor dem Maul androhen, sie lauert überall, wirft Schritt um Tritt ihre Schatten voraus, denn es gibt so vieles, was man einfach falsch machen muss, hat man vom ungeschaffenen Wort des Einzigen entweder nie gehört oder selbiges noch nicht ganz begriffen: im einzigen, endgültigen – in ihrem Sinne. Nach einem Warum fragt er, der schon alles weiß, natürlich nicht mehr, das hat er gottlob hinter sich, und die Gebote, deren strikte Einhaltung er unermüdlich einfordert, sind so fertig und vollkommen vom Himmel zur Erde herabgefallen, das der perfekte Mensch, ihr Prophet, sie nur noch nachzubeten hatte. Genau das tut auch er, und er tut es mit einem Eifer, der an Irrsinn grenzt und einem Ernst, der auf Anhieb betroffen, dann nur noch lachen macht. Leider, so viel steht fest, vergeht uns (und der übrigen Welt) mit diesen komischen Vögeln, wie der Vogel einer ist, zunehmend das berechtigte Lachen. Und wenn auch nicht alle von ihnen in´s Zweistromland auswandern, um den virtuellen Dschihad mal so richtig live und in Farbe nachzumachen (Vogel ist nicht der einzige, der immer keift, ansonsten aber kneift), so gilt doch für jeden von denen, das sie´s ganz in Ordnung, ja richtig geil finden, wenn in der Levante die Abweichler jeglicher Schattierung in blutigen Einzelteilen durch die Gegend fliegen. Frage: warum spinnen die so? Haben wir wirklich so viel falsch gemacht?

I.

Wenn ich im Folgenden den Versuch unternehme, die in Europa und der übrigen westlichen Welt nachwachsende Generation des islamischen Terrors zu typisieren, dann grenze ich die in Betracht kommende ´Zielgruppe´ hauptsächlich der Übersicht willen von den in der muslimischen Staatenwelt beheimateten Massen männlicher, oft Erwerbsloser Jugendlicher ab, deren Heißsporne nicht minder besessen agieren (der Sozialpädagoge Gunnar Heinsohn hat in diesem Zusammenhang den Begriff des ´Youth Bulge´ geprägt). Es geht also um in der westlichen Welt aufgewachsene Söhne zumeist muslimischer Einwandererfamilien, deren etliche sich häufig im unmittelbaren Anschluss an die Adoleszenz radikalisieren, wobei die immer zahlreicher in Erscheinung tretenden Konvertiten vom Schlage eines Pierre Vogel oft eine ganz ähnliche Sozialisation durchlaufen. Täglich rücken neue nach. Und immer mehr nach Syrien oder in den Irak aus. Eine besorgniserregende Entwicklung. Auch eine, die sich rasend schnell vollzog. Keine andere ´Religionsgemeinschaft´ hat in so kurzer Zeit so starken Zulauf erhalten wie die der Salafisten. Islamischer Fundamentalismus boomt. Ungebrochen. Nicht einzig im Dar al Islam, immer ungebremster eben auch bei uns; in der alten Welt.

Wer sich mit dem Phänomen intensiv auseinander setzt, indem er zunächst die typischen Täterprofile miteinander vergleicht, stößt auf Querverbindungen und Zusammenhänge, die zwischen offenen Gesellschaften und den an ihren Rändern gedeihenden traditionellen Milieus unmerklich zu Reibungen führen, die früher oder später den Funkenschlag verursachen, den der Betroffene selbst als ´Erleuchtung´ begreift. Was hat das zu bedeuten?

Offene Gesellschaften sind hochkomplexe, immer wieder Form und Farbe wechselnde Gebilde: dehnbar, durchlässig – ausbaufähig. Dem entspricht eine Organisation, die bis in´s letzte Glied reicht, denn sonst liefe der ´Betrieb´ schnell ins Leere. Nur durch eine ausgeklügelte, sorgsam gewartete Vernetzung lassen sich Ordnung und Transparenz miteinander vereinen. Nur so kann überhaupt gewährleistet werden, dass Durchlässigkeit nicht auf Kosten der Disziplin, die Entwicklung nicht zuungunsten einer auf anderen (nicht unbedingt höher stehenden) Ebenen angestrebten Symbiose verläuft. Alles ist wechselseitig miteinander verwoben und ergänzt sich auf diese Weise. Der Grad der ´Verschaltung´ (und damit auch der Unübersichtlichkeit) nimmt folglich immer weiter zu und verhindert so, das der gesellschaftliche Prozess gerinnt und damit nach außen abschließt. So kommt es nie zum Stillstand. Tatsächlich: alles fließt. Und wächst. Dynamische Prozesse sorgen von selbst dafür, dass nichts so bleibt, wie es war, und wenn es überhaupt eine Tradition gibt, die sich in diesem System nicht überlebt, eine Konstante, die immer bestehen bleibt, dann ist es die des fortschreitenden Wandels selbst. Der stete Wechsel muss von allen, die sich auf dieses ´Spiel´ einlassen, akzeptiert werden. Spätestens seit der Aufklärung hat das entsprechende Selbstverständnis sämtliche Schichten der Bevölkerung erfasst. Keiner kann sich da auf Dauer rausmogeln. Die Preisgabe ewiger Wahrheiten vollzog sich im Lichte wie im Schatten neuer Freiheiten. Fortan gab es keine dauerhaften sozio-emotionalen Garantien mehr, keine vorsorglich fest geschriebenen Ansprüche auf Werte wie Geborgenheit, Sicherheit – Gewissheit. Auch die musste man sich nun selbst erkämpfen. Das macht den Zwiespalt aus, den der Zivilisationsprozess als dauerhafte Hypothek einfordert. Die Institutionen bieten lediglich einen Rahmen, den jeder für sich selbst abschöpfen muss. Da wird einem nichts geschenkt, auch wenig abgenommen. Hier offenbart sich einmal mehr das Drama menschlicher Freiheit, die von der Philosophie früh ´zurück entdeckt´, von den Religionen aber und ihren Erbauungen schon immer im Kern begriffen und ausgebeutet worden ist. Die Maxime Kants, dass man den Mut aufbringen möge, sich der eigenen Vernunft zu bedienen, bleibt eine Forderung ohne Verfallsdatum, denn über die Gewissheiten, nach denen ein solcher ´jüngster Tag´ bestimmt werden kann, verfügen wir nicht mehr. Wir müssen ohne auskommen. Gleichzeitig potenzieren sich mit jeder Dekade die in Frage kommenden Möglichkeiten zur freien, und immer neue Freiheiten schaffenden Entfaltung. Sie schafft die Probleme nicht ab. Die laufen immer mit. Beides ist untrennbar miteinander verbunden und hält den dialektischen Prozess am Leben. Das ist schon in der Antike bedacht worden. So steckt in allem eine Möglichkeit, aber alles hat auch einen Haken; seinen eigenen Preis. Freiheit kann befreiend oder beängstigend sein, auch beides zugleich, aber in jedem Fall nötigt sie ihrem Träger die Pflicht zur Verantwortung ab. Ihm und keinem sonst. Es ist, so werde ich noch ausführen, eine sehr falsch verstandene Form der Freiheit, die den Extremisten von morgen heute noch berauscht, bevor sie ihn endlich abschreckt und schließlich zur Fratze ihrer selbst mutiert. Er lebt sie nur halb, und verzweifelt am Ende ganz an ihr.

Eingedenk der Tatsache, das offene Gesellschaften insgesamt zwiespältig bleiben, wird jener radikalislamische Fundamentalismus, der auf europäischem Boden gedeiht, als Phänomen transparent: ein junger Mann erliegt ihm umso verlässlicher, je inniger er am Gegenentwurf verzweifelt.

Es war und ist beliebt, weil scheinbar naheliegend, den Fanatismus auf (vermeintliche) soziale Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zurück zu führen – und damit bis zur Unkenntlichkeit zu reduzieren. Die so gewonnenen ´Erkenntnisse´ sind dann solche, mittels derer man alles versteht und nichts mehr erklärt. Wie oft wurde und wird etwa der Mangel an Integrationsangeboten in unserer Gesellschaft beklagt, obschon es deren noch nie so viele gab wie heute und wie unbekümmert gehen solche, die in diesem Zusammenhang von ´Chancenungleichheit´ reden, darüber hinweg, das eben diese Angebote einer Vielzahl an Menschen tatsächlich geholfen und zu einer gelungenen Integration geführt haben. Das ´Allheimittel´ Integration gerät hier zur taktischen Konkursmasse: geht´s den Patienten immer noch schlecht, muss die Dosis weiter erhöht werden. Von den ´Gesunden´ spricht in dem Moment aber keiner mehr. Wer eine Diskriminierung seitens der Mehrheitsgesellschaft unterstellt, Versäumnisse und Verfehlungen ihrer Institutionen, hat auch auf der anderen Seite den Plural gerettet. Als Negativposten. Dann gibt es da eben in summa auch keine Ausnahmen mehr, dann sammeln sich dort nur noch unterschiedlich kranke und im Stich gelassene Patienten, dann kann man ein ´Krankenhaus´ nach dem andern aufmachen und die Arzneibestände aufstocken; bis der Affe laust. Das ist ein Widerspruch, der den in Legion angetretenen SozialpädagogInnen, den Angehörigen einer ungebremst auswuchernden Betreuungsindustrie, gar nicht mehr aufgeht. Im Grunde leben sie davon, dass die Probleme in der einen oder anderen Form bestehen bleiben und neue entstehen, an denen man dann auf bewährte Weise herumdoktern kann. In vielen Fällen haben sie Erfolg, davon lasse ich mich als Lehrer auch immer wieder gerne überzeugen. Geht es aber um die ´Ausreißer´, stimmt auf einmal das ganze System nicht mehr. Frage: wo beginnt bei denen die Diskriminierung und wo endet bei uns die Geduld? Haben wir es nur mit ´Beleidigten und Entrechteten´ zu tun, die man entsprechend besänftigen, behandeln – bemuttern muss?

Die ermittelten Befunde sprechen längst eine andere Sprache. Und die Profile der Täter lassen erkennen, dass weniger erlittenes Unrecht, mehr das eigene Unvermögen die weitere ´Karriere´ bestimmt. Ich will hier nicht mit Biografien um mich schmeißen oder der Empirie das öde Wort erteilen. Die Studien von Heitmeyer und Mekhennet, Kepel oder Steinberg und deren Dutzende mehr haben hinreichend unter Beweis gestellt, das es weder arme Hungerleider noch notorisch geschubste oder gebeutelte Gestalten sind, die sich am Ende zum Massenmord bekehren (lassen). Das Problem reicht tiefer. Es hat etwas mit der Identität einer Person und der ganzer Gruppen zu tun. Es hat auch etwas mit vorgefundenen oder neu entdeckten, zum Teil wieder entdeckten Lebensräumen zu tun. Begreift man die offene Gesellschaft sozusagen als übergeordnetes Milieu, in Form einer schirmenden, wiewohl nicht umfassend Kontrolle ausübenden Instanz, dann sind familiäres Umfeld, Familie und Verein, Internet und Gleichaltrigengruppe die Instanzen, die über begriffliche Codes die Schlüssel zu einem besseren Verständnis der Entwicklung liefern; einer immerhin, die von Person zu Person divergiert. Dass diese Codes sich nicht immer mit den Ansprüchen einer säkularen Moderne decken oder irgendwie in Einklang bringen lassen, liegt auf der Hand.

II.

Der islamische Fundamentalismus hat seine eigenen, je nach konfessioneller Abweichung einander ausschließenden Säulenheiligen, an denen keiner ihrer Jünger zu rütteln wagt. Eine dieser bis zur Vergötzung verehrten Lichtgestalten ist der Ägypter Sayyid Qutb gewesen. Sein Werdegang ist aufschlussreich und straft all jene Lügen, die von vermeintlichen sozialen Miseren auf einen noch viel vermeintlicheren ´Widerstand´ schließen, der in Wahrheit, wie noch gezeigt werden wird, eher an Verstocktheit denn an mangelnder materieller Teilhabe grenzt und im Ergebnis den Symptomen einer echten Zwangsneurose gleicht.

Der moderne, ganz auf das ungeschaffene Wort des Allmächtigen fixierte Islamismus keimte Ende der Zwanziger Jahre in einem nordägyptischen Städtchen namens Ismailia auf: kein heiliger Ort, sondern von Ferdinand de Lesseps, dem Erbauer des Suezkanals, Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gegründet. Hier entstand 1928 die noch heute wirkungsmächtige Muslimbruderschaft. Ganze sieben Männer waren es, die sich damals unter der Ägide des Gelehrten Hassan al-Banna zusammenfanden. Aber erst in der Gestalt Qutbs, der dieser fundamentalistischen Bewegung Anfang der Fünfziger Jahre beitrat, offenbarte sich das wahre Gesicht der Bewegung, so unerbittlich wie unversöhnlich, und die sakralen Ismen, die der ´Seiteneinsteiger´ prägte, bestimmen bis in unsere Tage, etwa bei den Verbrechern von der Hamas, das Selbstverständnis ihrer Nachbeter.

Qutb ist insofern ein interessanter Fall, als das nichts, aber auch wirklich gar nichts im Leben dieses zukünftigen Ultrafundamentalisten auf soziale Benachteiligung oder selektiven Ausschluss von den Segnungen einer damals sehr spürbaren zivilisatorischen Moderne hindeutete. Man kann wirklich suchen solange man will: man findet keinerlei Bestätigung der gutmenschlichen These, wonach es benachteiligte, von den Institutionen diskriminierte Menschen sind, die den gemeingefährlichen Furor begründen. Das gilt, wie wir sehen werden, auch noch für jene, die ihnen später in Scharen folgen.

Kindheit und Jugend dieses Mannes sind bestens belegt. Qutb wurde 1906 in einem Dorf mit sowohl christlicher als auch muslimischer Bevölkerung geboren. Er entstammte einer bürgerlichen Familie. Bei der Wahl zwischen der Koranschule und der staatlichen Schule entschied man sich für letztere. In seiner Jugend kümmerte sich Qutb nicht um den Islam. Und im Elternhaus spielte Religion die in diesen Kreisen übliche, also: nebensächliche Rolle. Sie war Privatsache. Qutbs Vater arbeitete als Abgeordneter der Nationalen Partei. Durch die Besucher in seinem Elternhaus kam der Sohn schon als Jugendlicher mit Politik und damit zwangsweise mit dem damals mächtig aufblühenden arabischen Nationalismus in Berührung. Nach Beendigung der Schulzeit begann er sein Studium am Institut für Lehrerausbildung in Kairo. Sein Onkel, ein Journalist, nahm sich des jungen Mannes an. Nach erfolgreichem Abschluss absolvierte er 1933 am Dār al-ʿUlūm („Haus der Wissenschaften“), das eine viel fortschrittlichere Ausbildung bot als die traditionsgebundene al-Azhar-Universität. In den folgenden sechzehn (!) Jahren arbeitete Qutb dann für das Bildungsministerium und verfasste zahlreiche Vorschläge zur Umgestaltung des Erziehungswesens, die jedoch keine Beachtung fanden. Gleichzeitig trat er als Journalist für auflagenstarke Zeitungen in Erscheinung. Auch als Autor und Literaturkritiker versuchte er sich. In den Prosaschriften verarbeitete Qutb seine Lebensabschnitte und eine enttäuschte Liebe. Womöglich lag es an letzterem, das er zeitlebens Junggeselle blieb. Als ehemaliges Mitglied der Wafd-Partei entsagte er schließlich der Parteipolitik und wandelte sich zum Fürsprecher nationalistischer Ideen, wodurch er bald den Zorn König Faruqs auf sich zog. Seine alten politischen Kontakte retteten ihn aber.

Bis zu diesem Zeitpunkt deutet nichts auf religiöse Indoktrination hin; auf irgendeine in frommen Zirkeln erworbene Gehirnwäsche, der Qutb schließlich erlegen wäre. Auch entsagte er in keiner Weise dem in seinem Milieu obligatorischen westlichen Lebensstil. Kurioserweise vollzog sich diese Wandlung in Form einer Hinwendung zur reinen Lehre des Propheten erst, als er (mittlerweile zum Nationalisten ´bekehrt´) sein Heimatland verließ um im Auftrag des Bildungsministeriums in den USA (einer damals ausgesprochen liberalen Gesellschaft) das dortige System zwecks möglicher Transformation zu studieren. Man muss sich einen Moment lang vergegenwärtigen, zu welchem Zeitpunkt er die Reise antrat. 1949 war Ägypten schon auf dem besten Wege, den Wandel von einem unterentwickelten Agrarland in einen modernen, am westlichen Modell geschulten Nationalstaat zu vollziehen. Qutb wiederum kam in ein Land, das Ende der vierziger Jahre ungebrochen prosperierte und, vom nur wenige Jahre zurück liegenden Weltkrieg im Innern völlig unberührt, sowohl technisch als auch gesellschaftlich das damals wohl fortschrittlichste Gesellschaftsmodell zu bieten hatte, das es überhaupt auf der Welt gab: allen übrigen haushoch überlegen. Qutb bewegte sich zwei Jahre völlig frei in einer dynamischen, weltoffenen, gewiss auch hedonistisch orientierten Welt, die vom zahllos zitierten Anspruch des ´pursuit of happiness´ nahezu durchdrungen schien. Ironischerweise fällt der Aufenthalt Qutbs mit den ersten Sturmwehen jener berüchtigten Kommunistenhatz zusammen, die untrennbar mit der Person des Senators Mc Carthy verbunden bleibt. Davon blieb der Ägypter aber ganz unberührt. Er hat gerade diesen Aspekt in seiner Kritik am verkommenen Westen völlig ausgespart. Gegen ihn selbst ist auch nie ermittelt worden. Ob ihm die verhassten Fellow Travellers, denen der Senator so unermüdlich nachstellte, insgeheim egal gewesen sind? Qutbs Zorn entzündete sich nicht am Schicksal politisch Andersdenkender. Nein – die Lebensweisen der Andersgläubigen, denen er hier begegnete, schreckten ihn ab. In einem vermeintlich verkommenen, promisken Umfeld wandelte sich der biedere, unauffällige, stets freundlich und gewinnend lächelnde Staatsbeamte in einen Fanatiker samt und sonders um. Ohne erkennbare äußere Anlässe. Ohne erlittenes Unrecht, ohne eigene Not. Überhaupt ohne direkte Reibung. Wie kommt es aber, so mag man schon jetzt fragen, dass ein berühmter Zeitgenosse, der spätere Staatspräsident Ägyptens, einen völlig anderen Weg einschlug? Nasser durchlief eine ähnliche Sozialisation wie Qutb. Den Segnungen eines westlich geprägten Umfeldes entbehrte er so wenig wie der spätere Antipode. Ihm war, wie jenem, das Modell der Abendländer in all seinen Erscheinungsformen geläufig. Nasser war Soldat. Offiziere parlierten, gemäß dem Vorbild der streng laizistisch ausgerichteten Türkei, betont weltlich. Europa war das Nonplusultra. Gemäß eines Ausspruchs Atatürks, gab es ohnehin nur eine einzige Zivilisation: eben die europäische. Der spätere Rais schwor denn auch, einmal an der Macht, voll auf ihre weltanschaulichen Ableger und schachtelte die seinerzeit gängigen Entwürfe des Nationalismus und Sozialismus recht geschickt ineinander, während sein ´Kollege´ überhaupt alles, was aus ´dem´ Westen kam fortan schmähte und bekämpfte. Warum setzte sich der eine von beiden mit den Herausforderungen der Moderne schöpferisch auseinander, während der andere, wiewohl mit Verspätung, sämtliche ihrer Projekte verteufelte und dazu aufrief, sie im Keim zu ersticken? Man könnte auch, auf heute gemünzt, fragen, warum von zwei Brüdern, denen dieselbe Sozialisation anhaftet, der eine recht unauffällig als Ingenieur arbeitet, während der andere erst meutert und dann Menschen massakriert.

Als Sayyid Qutb in die USA reiste, gründete Gamal Abdel Nasser gerade das Komitee der freien Offiziere; eine explizit sozialrevolutionär gestimmten Gruppe von Verschwörern, die den Bruch mit der Vergangenheit so umfassend wie möglich ins Auge fasste. Ihr späterer Vorsitzender suchte mit allen Kräften die anderthalb Jahrtausende wirkungsmächtig gebliebene Vision der Umma durch den abendländischen Begriff der Nation zu ersetzen. Mit diesem auf den Baathismus des Syrers Michel Aflaq wurzelnden sogenannten Nasserismus, der als Panarabismus die Nationen der Region unter ägyptischer Führung zu einen suchte, sprengte der Despot endgültig die Ketten einer ehedem sämtliche Bereiche des öffentlichen Lebens lähmenden Dominanz sakraler Doktrinen und schüttelte gleichzeitig das Joch kolonialer Bevormundung ab. Sein ehrgeiziger, völlig verfehlter Versuch, die ganze Region auf Kosten des Staates Israel zu einen und unter eigener Ägide imperial zu konsolidieren scheiterte im Sechs Tage Krieg an der überragenden militärischen Selbstbehauptung des Judenstaates und machte, wiewohl sich das ägyptische Volk noch eine Weile verzweifelt um seinen gefallenen Pharao scharte, den Weg frei für die restaurativen Gespinste Qutbs, der zeitgleich auf seine Chance gewartet hatte. Nasser scheiterte am Ende mit dem Versuch, das Politische vom Religiösen zu trennen, während Qutb diese Idee erst verwarf, nachdem er im Amerika der frühen Nachkriegszeit Wohlstand und Fortschritt kennen lernte; Freiheit vor allem und eine Freizügigkeit, die ihn offenbar weniger erzürnte, mehr zutiefst verunsichert, ja geängstigt haben mag. Reicht das, wie oft versucht, schon als Erklärung aus? War das alles, was den braven Beamten auf Abwege brachte? Haben wir den umfassenden Gesinnungswandel damit schon erklärt? Um es noch einmal zu wiederholen: getan hatte dem Herrn Qutb keiner was. Niemand, der den Mann in irgendeiner Weise diskriminierte oder schnitt. Wozu auch. Weder irgendwelche sozialen Antagonismen noch Unrecht sonstiger Art erwarteten den Reisenden aus Ägypten in den Vereinigten Staaten, aber als er zurück kehrte, war ihm der Westen des Teufels und der Islam die Lösung. So seltsam das auch klingen mag, so sicher bleibt doch, dass es so und nicht anders war. Irrtum ausgeschlossen. Übrigens: auch Nasser hatte in jungen Jahren eine Weile den Muslimbrüdern nahe gestanden. Dann war das für ihn erledigt. Qutb, deutlich älter, blieb auf der anderen Seite. Bis ihn der Rais hinrichten ließ.

Schon Qutb passte nicht mehr ins harmlose Raster kollektivistischer, das Individuum negierender Allgemeinplätze, die in allem nur ´die´ Gesellschaft sehen, der ´das´ Individuum angeblich mit Haut und Haaren, irgendwie und immer ausgeliefert sei. Er war ein Beleidigter, aber kein Entrechteter; er genoss zahlreiche Freiheiten und sprach sich am Ende gegen sie aus. Auch seine Nachfolger, die gleichsam in modernen, fortschrittlich orientierten Gesellschaften aufwuchsen, entziehen sich einem flüchtigen Deutungsschema besagter Machart. Zwar darf man den Fall Qutb nicht von den soziokulturellen Besonderheiten der Dekade trennen, und die geschichtliche Gesamtlage deckt weitere Tiefenschichten gesamtgesellschaftlicher Befindlichkeit auf. Doch kann er helfen, das Augenmerk auf gewisse psychologische Besonderheiten zu lenken, die in der Begegnung mit den je vorgefunden Lebenswelten Abgründe offenlegen, die sowohl die Erbauung als auch den ´Erbauten´ entlarven. Er ist nicht bloß Opfer. Er ist auch Täter; in jeder erdenklichen Bedeutung des Wortes.

III.

Was sind das nun, grob gefragt, für Typen, die bei El Qaida oder Al Nusra, bei den Salafisten oder der IS ´mitmachen´? Was eint sie und was zeichnet den Einzelnen aus, der ihren Verheißungen (sie haben nichts außerdem zu bieten) endlich und endgültig erliegt? Wie rutscht er da überhaupt rein und wo rutscht er vorher raus? Woher kommt er also, bevor er sich einbildet, genau zu wissen, wohin die selige Reise geht?

Die heutigen ´Einsteiger´ sind, zugegeben, deutlich jünger als ihr Idol Qutb es war. Als der den Schritt vom stillen Politbeamten zum ´Rufer in der Wüste´ wagte, vom Abwartenden zum Aufhorchenden, vom stillen Zweifler zum zeternden Allwissenden, da ging er schon auf die berühmte Lebensmitte zu. Qutb war denn auch mehr Brandstifter als Brandleger. Nicht wenige der mittlerweile dem extremen Umfeld zugeordneten Rechtgläubigen schrecken ihrerseits vor gezielter Gewalt beharrlich zurück (Vogel etwa), aber immer mehr können es gar nicht erwarten, im Namen ihres Glaubens zu metzeln und die andern finden das auch ganz richtig so – wie Qutb es richtig fand. Morden die Gotteskrieger aus lauter Mitleid mit irgendwelchen Opfern? Man hat, dies vorweg, lange genug die Empörung über das Schicksal ihrer Glaubensbrüder in der Levante als Alibi angeführt: Rache für die (vermeintlich) Entrechteten. Das ist eine dieser bequemen monokausalen Unredlichkeiten, mittels derer man krampfhaft versucht, etwas in der Nähe Greifbares mit dem vermeintlich Unbegreiflichen, weil eben allzu weit Entfernten zu versöhnen, aber der entsprechende Eifer, der Wille zur Aktion entzündet sich nach meiner festen Überzeugung weniger an den aus sicherer Distanz oft verzerrt wahr genommenen Begebenheiten im ´heiligen Land´ als vielmehr am Brand im Innern selbst – an der eigenen, heillos überforderten, auf´s äußerste an sich und seiner unmittelbaren Umgebung verzweifelnden Person.

Man hüte sich, diese Behauptung wiederum als Allgemeinplatz aufzufassen. Es verbirgt sich, finde ich, viel mehr dahinter. Auch und gerade ein Äußeres, das wie im Falle Qutb unmittelbar, direkt erlebt wird. Diesem Äußeren haftete seinerzeit keinerlei kriegerische Fratze mehr an. In den USA lag der letzte Waffengang schon fast ein Jahrhundert zurück und die Nation führte auch keinen (oder mehrere) in Nahost. Zum zeitgleich in Korea statt findenden Krieg äußerte sich der sensible Mann erst gar nicht. Nein: was in Übersee, jenseits des von ihm bereisten goldenen Westen, los war, dass ging an Qutb vorbei; mochten die Vereinigten Staaten involviert sein oder nicht. Das hat den Gesinnungswandel nicht berührt. Auch die jüngsten Kriege im Irak oder in Afghanistan bleiben, solange sie bloß ein Berichtetes, aus zweiter Hand Erlebtes oder vor der Glotze inhaliertes darstellen, abstrakt. Sie zählen gewiss zu den Auslösern, aber mit der Initialzündung, die einer Stichflamme gleicht, haben sie gar nichts zu tun. Die findet eher in der Nähe, genauer: ganz in der Nähe statt. Frage: was zeichnet den auslösenden, den zündenden Moment aus, wie kommt es überhaupt dazu und wie ordnet man den Vorgang am besten ein?

Es sind sowohl gelebte als auch erlebte, herbeigesehnte und oft unverstandene Traditionen, die der Auslösung unmerklich vorauseilen; solche, in die man hineinwächst und jene, in die man sich schließlich hineinsteigert. Ausschlaggebend – auslösend eben – ist aber nach meiner festen Überzeugung am Ende jene Tradition, an der die ´Kandidaten´ irgendwann bis zur Verzweiflung verzagen: die einer rational begründeten, säkular gestrafften, auf Effizienz und Entfaltung, auf Freiheit und Verantwortung gemünzten Moderne. Ich wiederhole: nach meiner Überzeugung. So muss man auch all das lesen, was jetzt noch folgt: es sind tatsächlich Mutmaßungen; aber mit Rückgriff auf die Befunde derer, denen ich oben bereits Erwähnung schenkte. Es entscheide jeder für sich, ob ihm das glaubhaft scheint oder nicht.

So seltsam, ja satirisch es klingt: die meisten von denen, die später bei den Salafisten landen, sind anfangs voll integriert. Soll heißen: sie gebärden sich westlich in einem sehr deutlichen, im auch optisch verlässlichen Sinne. Mit allem, was dazu gehört, zahlreiche Schattierungen und auch Widersprüche eingerechnet, denen sie schließlich erlegen. Der Werdegang beweist in den meisten Fällen, das anstelle der behaupteten fehlenden Integration anschließend einer umso verlässlichere Desintegration stattfindet, das heißt: der ´Kandidat´ war es zunächst noch – integriert. Auf eine Weise freilich, die bereits zeigt, wie fragil das umständlich geblähte Gebilde war, wie unfertig und basislos.

Mohammed Bouyeri, der vor gut zehn Jahren den Filmemacher Theo van Gogh auf offener Straße förmlich massakrierte, war, wenn man so will, auch nur einer dieser verkrachten Akademiker, die im Anschluss an ihr Scheitern als Taxifahrer oder Wurstverkäufer weiter machen. Wer wollte ihm ernsthaft vorwerfen, dass er mehrfach sein Studienfach wechselte um dann nach einem halben Jahrzehnt ohne Abschluss die Hochschule zu verlassen. Vogel lässt grüßen. Aber auch Legionen solcher, die am Ende eben nicht bei den Wirrköpfen von der Sauerlandgruppe landen. Die andere ´Fraktion´, die ´Brüder´ aus dem Rap-Milieu, unterscheiden sich ebenfalls nicht wesentlich von ihren wiederum sehr westlich, sehr säkular uns hedonistisch gestimmten Vorbildern diesseits und jenseits des Atlantik. Nicht einmal der Umstand, das sie in den entsprechenden Dunstkreisen allzu häufig allzu früh in kriminelle Fahrwasser geraten kann auf den Mangel ´Integrationsbemühender´ Maßnahmen zurück geführt werden, denn dann müsste man auch die Kevins und Justins der Nation zu Opfern der Islamophobie erklären. Nein, so einfach ist es nicht. Vielmehr deutet manches darauf hin, das die erlebten und umso intensiver gelebten Welten, innerhalb derer die Sozialisation dieser jungen Männer weniger verläuft, sich vielmehr verrennt, ähnliche Wirkungen zeitigen, aber am Ende ganz andere Folgen: die werden durch den kulturellen Background umso mächtiger nachjustiert.

Die wenigsten von denen, um die es hier geht, waren in ihrer Sturm, – und Drangzeit Kinder von Traurigkeit. Es kann als feste Konstante gelten, dass ihnen die Regeln ihrer Religion anfangs eher hinderlich, vielleicht auch gleichgültig waren. Sie hielten sich jedenfalls kaum an irgendwelche Vorschriften und pochten nur auf solche, die ihnen opportun schienen (wovon deren Schwestern oder Cousinen mehr als nur ein Liedchen singen könnten wenn sie´s dürften). Sie zogen die Tanzfläche dem Gebetsteppich vor, die Vulgärakrobatik ihrer vergötterten Black Music den Suren des unbeachtet gebliebenen Koran. Sie nahmen mit, was sich mitnehmen ließ, tobten sich entsprechend aus, in den Bars und Clubs, wo der Alkohol in Strömen floss. Das sind keine Unterstellungen sondern nachträglich von ihnen selbst aufsummierte Sünderegister, mit denen sie dann später wie der Alte vom Berge hausieren gehen: da ist aus dem Saulus schon ein Paulus geworden. Aber das Wesentliche an der Geschichte verschweigen sie, das passt nämlich nicht ins Bild, weil es den harten Jungs eben zu peinlich ist: die eigene Ohnmacht, die Verunsicherung – die Verzweiflung. Ich habe gesündigt? Ja. Ich war eine ganz, ganz arme Sau, weil ich mich so fühlte? Bloß nicht. Ich doch nicht. Das schlechte Gewissen lief als unsichtbarer Schatten sicher früh, ganz gewiss nicht von Anfang an mit und mag bald jene Beklommenheit ausgelöst haben, die sich auf der Überholspur immerhin noch durch den Rausch der Geschwindigkeit betäuben ließ. Auch andere, gleichsam verbotene Räusche kamen hinzu. So blieb der Widerspruch erträglich. Aufheben ließ er sich nicht. Eine solche Massenkompatible ´Verhaltensdisposition´ ist mit der Exklusivität, auf die sie später, gerade in ihrem ganz persönlichen Falle, pochen, natürlich nicht zu vereinen. Auch das sehen sie nicht. Sie wollen es nicht sehen. Sie beginnen bereits, sich etwas in die eigene Tasche zu lügen.

Immerhin begreifen sie irgendwann, dass Freiheit sich umgehemmt nur bis zur Neige auskosten, immer weniger genießen lässt. Sie schafft aus sich selbst heraus keine Werte, bringt keine Ordnung, entbehrt jeder Orientierung. An diesem Punkt, der mehr einem diffusen Übergang gleicht, berührt sich die unverstandene, langsam sich abnutzende Freiheit zäh und unnachgiebig mit ihrem Gegenteil, das dem Bedürfnis nach Sicherheit weniger erlösend, mehr mahnend, ja Zornesrot gegenüber tritt. Der reuige Sünder kann gar nicht anders: er braucht jetzt den eigenen Glauben, denn alle übrigen ´Entwürfe´ könnten sich, da sie der anderen, nur Verunsicherung und Verwirrung stiftenden Seite entspringen, als weiteres Unheil entpuppen. Er beginnt nun also, halbgar und ängstlich, seine Auseinandersetzung mit dem sakralen Erbe, doch dies geschieht in einem verhängnisvollen Vakuum, umfiebert von einer sich immer weiter ausbreitenden Leere, die jede innere Haltlosigkeit kennzeichnet. Die Sinnkrise erreicht ihren Siedepunkt. Der traditionelle religiöse Rahmen, im verwandtschaftlichen Umfeld gepflegt, genügt jetzt, hat man sich vorher so ausgetobt, nicht mehr. Die Maßlosigkeit hat ihn, der strauchelt, bis ins Mark geprägt: alles oder nichts. Salopp formuliert: der alte, überlebte Exzess muss nun durch einen neuen ersetzt werden und der muss, wichtiger noch, größtmögliche Geborgenheit bieten. An dieser ´Wegscheide´ beginnt wohl so langsam der eigentliche Prozess, dort setzen auch die ´Verführer´ an, während der werdende ´Novize´ in Resten zwischen chronischer Zerknirschung und pubertärer Ratlosigkeit hin und her pendelt. Die ganze innere Zügellosigkeit aber, die sich nur zu gerne hinter größtmöglicher Bescheidenheit verbirgt (ER ist alles, ich bin nur sein Werkzeug), ist der insgesamt zu groß geratene Anspruch, mit dem der gestern noch fröhlich feiernde Jüngling seine finstere Initiation nun innerlich heiligt. Der unmäßig bordende, durch keinerlei Vernunft oder Verstand mehr zu besänftigende Frust kann mithilfe eines bloß gemäßigten Islam (als welchen er den im familiären Umfeld praktizierten nun erlebt) nicht mehr besänftigt oder halbwegs zur Raison gebracht werden: Islam light wird vom bebenden Gemüt gewogen (oder geschüttelt) und für zu leicht befunden. Ein Häuflein Elend bestimmt über den zukünftigen Marktwert seiner Erbauung wie ein Fixer auf Ersatzdroge.

Halten wir bis hierhin fest: der werdende Extremist nähert sich, verschämt und verunsichert, mit schlechtem Gewissen und umso heißer im Verlangen, dem eigenen Glauben an. Die entsprechenden Chiffren werden schleichend, aber hartnäckig verinnerlicht und je unsicherer er sich fühlt umso verzweifelter hämmert er sich diese ein. Der Islam kennt viele solcher ´Unumstößlichkeiten´. Sie ersparen, immerhin, allzu viel Exegese, denn sie sind eindeutig und unmissverständlich. Dass kommt den jungen Männern, die nach eindeutigen Lösungen für ihre immer komplizierteren Probleme suchen, sehr entgegen. Jeder überhaupt noch wahrgenommene alternative Lösungsansatz prallt nun an ihnen ab, denn diesen ´Ismen´ haftet das Manko der Freiheit an, von der sich diese Menschen gerade erst erholen und umso stärker fürchten: bloß keine weitere Freiheit, die wieder vieles offen lässt und die den Einzelnen nicht auf Anhieb sondern nur mühsam, Zentimeter um Zentimeter, voran bringt, die auch schnell wieder zurück werfen kann, denn sie kommt ohne Erfolgsgarantie aus. Überhaupt garantiert sie nur eines: weiteren Zweifel und umso mehr eigene Anstrengung, ein zu mühseliges Geschäft…

Die ´Neugeborenen´ lassen sich darauf nicht mehr ein. Sie haben ihre Gründe. Der alte Freud hätte vermutlich seine helle Freude an diesen verhinderten Ingenieuren und Studienräten, umso besser qualifizierten Türstehern und Karatekids gehabt. Es ist bekannt, das der Verlauf chronischer Gemütserkrankungen in Schüben verläuft und, vor allem bei bipolaren Störungen, Glücksmomente beschert, die, wertet man sie als bloßes Symptom, der normalen Zurechnungsfähigkeit zuwiderlaufen. Starke, hartnäckige Depressionen verhindern die manische Befreiung, indem sie dieselbe bis zum platzen stauen und hinauszögern. Der zukünftige Super-Rechtgläubige wird gerade mit der scheinbaren Erlösung, die einem irgendwann zwangsweise auftretenden Hochgefühl entspringt, nicht fertig. Denn der immer wieder erfolglos herbei gesehnte, so plötzlich wie heftig auftretende Flash bereinigt weniger: er berauscht. Er begegnet ihm nicht mit Verstand sondern im Zustand der Verzückung, die jede Vernunft begräbt. Nach einer langen, mühseligen ´Einarbeitung´ in die sakralen Weihen des allein seligmachenden Glaubens setzt der ´Gesegnete´ jetzt, rundum ´geläutert´, die begleitenden Initiationen absolut, und die Forderung nach ´totaler Unterwerfung unter den Willen des Allmächtigen´, im radikalen Umfeld tagtäglich eingetrichtert, gewinnt schlagartig – endlich, endlich sozusagen – an Kontur. Der allmächtige Wille wird so, da man selbst nicht länger ohnmächtig ist sondern total euphorisiert, sehr spürbar. Als Gefühl. Nicht mehr, aber auch nicht weniger ist das: es gibt keine Beweise für irgendetwas, nur das eigene, als überwältigend empfundene Empfinden zählt und wiegt alle Unbill auf – und schiebt den Rest einfach fort. Ab in den Müll damit. Nie wieder ohnmächtig sein müssen, endlich wieder stark sein dürfen: so lebt und webt es in ihm nun. Und die heimliche, nunmehr erfolgreich unterdrückte Angst befördert alles Weitere. Sie läuft unbewusst mit; wie eine unsichtbare Kette. Obschon er sich nun befreit fühlt, wächst die Unfreiheit, das starre Dogma will es, verlangt es so. Die vermeintliche Erleuchtung festigt den Rigorismus nicht nur, sie steigert ihn sogar noch. Er darf jetzt wirklich gelebt werden. Mit Haut und Haaren sozusagen. In diesem Moment der ´Entwicklung´ stoßen, glaube ich, überhaupt erst zwei Antagonismen voll und ohne Bremsung aufeinander: der eigene, durch den Rausch entfachte Überlegenheitswahn und der des religiösen Systems. Beides ergänzt sich und bereitet dem Irrsinn tödliche Bahn. Es hat sich in der Zwischenzeit auch viel Hass und Wut angestaut, auf die eigene Person und auf diejenigen, die mit allem immer viel besser fertig wurden. Der kann jetzt auch ganz ungebremst, aber gutem Gewissen, abgelassen werden.

Islam heißt: Unterwerfung unter den Willen Gottes. Dies geschieht nach fester Maßgabe. Die reine, unverfälschte Lehre, die allein seinen ungeduldigen Jüngern genügt, bietet unumstößliche Regeln und Rituale, die Sicherheit geben und dauerhaft eingehalten werden müssen. Dazu passt, was Nietzsche fand: es ist leichter zu gehorchen als zu befehlen. Die Befehle aber sind, als ungeschaffenes Wort des Einzigen, auf ewig festgeschrieben. Zwar beweist schon die oberflächliche Exegese des Koran, dass sich vieles widerspricht und auf die jeweiligen Umständen und Situation der Epoche zurück zu führen ist, aber im Einzelnen hat es strikten Gebots/Verbotscharakter, das reicht, denn das allein bietet einer gefallenen Seele Halt. Man könnte sagen: mehr muss nicht. Nicht mehr. Jedes der Gebote ist, für sich genommen, hart und unerbittlich – so streng, das man(n) dem demütig folgt, da man(n) sonst schnell wieder in der Irre hedonistischer Verwirrung herum irrt. Je strenger, umso besser. Das hilft dem, der sich verrannte und dabei fast verlor; und er hält umso hartnäckiger daran fest, je lästiger irgendwelche restlichen Zweifel vielleicht noch dagegen halten mögen.

Kurioserweise ist nun genau das, worauf der Fanatiker abfährt, der Stein des Anstoßes: einer, der ihn rasend macht und der so, noch irrwitziger, das Unheil verlässlich perpetuiert. Der Überlegenheitsanspruch der eigenen Religion steht nämlich im Kontrast zu den tatsächlichen globalen Realitäten: der eigene Überlegenheitsanspruch entspricht nicht den Ist-Zuständen. Wie aber kann sein, was gar nicht sein darf?

Ein Beispiel. Der den muslimischen Gesellschaften eigentümliche, im Westen nicht länger wirkungsmächtige Männlichkeitswahn scheitert immer öfter am Feminismus unserer Tage, an geschlechtlicher Egalität, was einen echten Macho natürlich unentwegt erzürnen muss: ändern kann er´s nicht. Und wenn Frauen oft stärker und selbstbewusster, auch klüger und cleverer sind: ist das für IHN unerträglich. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau ist ein Fatum, das auch in der islamischen Staatenwelt für Unruhe sorgt, allen Traditionen zum Trotz. Es setzt sich aber nur schwer durch, was einer der Gründe dafür ist, warum diese Gesellschaften weiterhin stagnieren. Im Gegensatz zu denen der Ungläubigen. Hier erinnert sich der Fanatiker einmal mehr an die eigene, so schmerzlich empfundene Situation: an seine eigenen Niederlagen. Noch einmal Nietzsche, der in ähnlichen Zusammenhang von der ´Rache der Schlecht Weggekommen´ sprach. Die wird sich jetzt so richtig austoben; immer am passenden Objekt.

Es mag hart und arrogant klingen, aber das eigene Scheitern, das als demütig empfundene Versagen entspricht dem des Islam in einer modernen, auf Vielgestaltigkeit und Entfaltung, auf Dynamik und Flexibilität aufbauenden Welt. Für den, der sich stark fühlen will und muss, ist es kaum auszuhalten, das sein eigenes, als vollkommen geglaubtes Weltbild dem entgegen gesetzten, das er als Gottlos empfindet, stets unterlegen ist. Ich und der Islam – das scheint sich bei unseren jungen ´Erleuchteten´ zu ergänzen. Da treffen sich zwei, könnte man sagen. Und in der Gemeinschaft sind sie stark. Sie alle kennen keine rationale Antwort auf die Frage: wie können die Gottlosen erfolgreich sein und die Rechtgläubigen nicht? Und: darf das Unfehlbare scheitern? Denn es darf ja nicht verändert werden, es kann also nicht aus sich selbst fehlen. Also ist das auch keine Frage mehr. Die erlaubt sich gerade der nicht, dem das Fragen aus Überzeugung entbehrlich geworden ist. Für den Gläubigen wird anstelle einer Frage nur ein weiterer Frevel draus. Und der muss buchstäblich aus der Welt. Mit aller Gewalt. So steht es auch an zahllosen Stellen im heiligen Buch. Sühnen kann man diesen Frevel, dass nämlich der rechte Glaube im wirklichen Leben vom Unglauben so sehr gedemütigt wird, nur durch einen Frontalangriff. Der sündige Westen gerät unvermeidlich unter Generalverdacht. ´Natürliche´ Erklärungen darf es nicht geben, daher die vielen Verschwörungstheorien im Orient – die Ungläubigen haben sich ihren Erfolg eben ´erschlichen´. Das Leben ist ohnehin nur eine Vorhölle, und auf den wartet das Paradies, der sein Leben zuvor nach Vorschrift verwirkt. Gerettet. Das mag für krank halten wer will: ein vom Glauben gepackter, beseelter, ja besessener Mensch erlebt diesen Wahn als lichten, erlösenden Moment: als reine, allen Unbill und alle Widersprüche auslöschende Ekstase. Und er erlebt das nicht bloße einmal, sondern andauernd – immer wieder. Jakob Burckhard hat in seinen weltgeschichtlichen Betrachtungen dem Phänomen immerhin am Rande, ganz beiläufig Erwähnung gewährt, in der ihm eigenen, hochmütigen Art. In Anlehnung an den Wahabitismus spricht er in einer Fußnote, den Begriff des Fanatikers bereits gebrauchend, von einem ´trüben Seelenmischmasch, in den wir nicht mehr hineinsehen´. Ob er damit meinte, dass man´s einfach nicht kapieren kann oder dass man´s besser bleiben lässt, sich damit überhaupt zu beschäftigen? Der Satz lässt beide Deutungen zu.

Abschluss

Die ´Erleuchteten´ werden, wie eingangs erwähnt, auch weiterhin morden. Weiter ihren Glauben aus sich heraus schreien. Weiter in der Irre ´lustwandeln´. Was werden wir, noch in der Mehrheit, dagegen unternehmen? Wovor müssen wir uns am Ende mehr fürchten: vor der Demographie, die einer schrumpfenden Mehrheit das Diktum der schleichend sich mehrenden Minderheit schon von selbst beibringen wird, oder vor besagten Heißspornen, die den übrigen Rechtgläubigen gleichsam ein Dorn im Auge sind, weil sie durch ihr Tun den wahren Glauben in Verruf bringen?

Um das Phänomen abschließend mit einer versöhnlichen Note immerhin etwas abzumildern, möchte ich an einen Satz von Hölderlin erinnern:“ Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ So ähnlich werden wohl auch die Konvertiten vom Schlage eines Pierre Vogel empfinden: der verkommene Westen – wir – wäre dann die Gefahr und ihr Glaube – der strengste, wo gibt – das Rettende. Man kann die Aussage natürlich auch anders, in unserem Sinne deuten. Wer wollte ganz ausschließen, das die Nachgeborenen derer, die heute mit Übereifer oder einfach nur brav und folgsam ihren Buchstabenglauben praktizieren, nicht ihrerseits aufbegehren gegen die Altvorderen, gegen den ´Muff unter den Talaren´ – gegen die ganze reaktionäre Strenge, die sich irgendwann ohnehin von selbst erledigt, weil sich schon im Ansatz überleben muss, was in sich kein wirkliches Leben mehr trägt? Die verstorbene Oriana Fallaci hat in diesem Zusammenhang sehr treffend den Vergleich mit einem stehenden Gewässer gewagt.

Es wäre indes fatal, einfach nur abzuwarten und eine Automatik im angedeuteten Sinne abzuwarten. Wir sind nicht nur ohnmächtig Zuschauer in einem Spiel, das an unserer Statt gespielt wird. Es liegt (auch) an uns, entsprechend Sand ins Getriebe zu streuen. Jeder einzelne ist gefragt. Der Preis mag noch so hoch sein: sein Einsatz lohnt und wird sich am Ende rechnen.

Shanto Trdic, 2.9.14

 

 

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4 Antworten zu „Warum spinnen die so?“

  1. caruso schreibt:

    Ein guter Artikel! – Freiheit ohne Rahmen, Grenzen, Ordnung oder Form usw., nennen Sie wie Sie es wollen, ist keine Freiheit sondern Unordnung, Chaos, Willkür, Beliebigkeit, Zügellosigkeit und was für schöne Worte noch den Sachverhalt bezeichnen. Endloses Trinken, jede Menge Frauen, Disco – endlos, Rauchen – endlos, usw. befriedigt keinen Menschen. Früher oder später wird er diesen Sachen überdrüssig. Mensch braucht ein Ziel, ein realistisches. Indem er sich darauf fokussiert bekommt er zugleich auch einen Rahmen oder eine Form, ohne daß er deshalb alles andere aus den Augen verliert. Wenn jemand in der Familie, Schule, Gesellschaft nicht so erzogen (wie man heute sagt: sozialisiert) wird, der schafft das allein kaum oder nur selten. Ohne Form (Rahmen uaw) geht m e n s c h seeeeehr leicht verloren. Der Begriff „Freiheit“ hat ohne Form keinen Sinn – das ist meine Erfahrung als ehemalige Musiklehrerin.
    lg
    caruso

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    • schum74 schreibt:

      Das Schwierige, worauf Trdic aufmerksam macht: In einer freien Gesellschaft muss der Einzelne sich selbst eine Form geben.
      Wir Jiddn haben in dieser Hinsicht Glück: Die Form finden wir, nicht anders als Muslime, in der eigenen Tradition, nur dass unsere Tradition sich mit Freiheit verträgt.

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  2. schum74 schreibt:

    Alle Achtung dafür, dass Sie sich trauen, die zwei existentiellen Probleme Europas beim Namen zu nennen: den Bevölkerungsaustausch und den religiösen Fanatismus. Sie hängen in der Tat zusammen und haben einen gemeinsamen Namen: Dschihad oder Heiliger Krieg.
    Vom gewaltsamen Dschihad kann man noch reden, ohne befürchten zu müssen, als Rechtsextremen oder „Rechtspopulisten“ verleumdet zu werden. Seit Mai 2007 darf man für diesen Dschihad sogar Propaganda betreiben. Eine entgegenkommende Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs. Wer aber „Bevölkerungsaustausch“ sagt, der ist moralisch erledigt. Jeder merkt, was ist, nur reden darf man darüber nicht.
    Manche Islamkritiker in Europa erhoffen sich von der Enthemmung der IS-Barbaren, dass sie die Trägen und Satten im eigenen Land aufrütteln werde. So viel Aufklärung über den Islam war in den letzten 40 Jahren noch nie. „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“

    Ich teile diese Hoffnung nicht. Wie sagte Gandhi einmal sinngemäß: Einen Schlafenden kann man wecken; wer sich schlafend stellt, den kann man nicht wecken.
    Die Euro-Nomenklatura stellt sich schlafend oder will das Ende der hiesigen Völker, die eine offene Gesellschaft aufgebaut haben. Ich weiß nicht, was zutrifft, und es ist mir inzwischen egal. Das Ergebnis zeichnet sich ab: Dar al-harb Europa wird zu dar al-Islam.

    Gegen ihre vorsichtig-optimistische Schätzung, die Nachgeborenen könnten den Aufstand gegen die strengen Väter proben, spricht die Erfahrung, die wir soeben im Nahen Osten gemacht haben: Gegen den Islam gewinnt man nie. Die Abschüttelung des Muffs unter den Talaren war ein Spiel unter Demokraten. Kein Student wurde dafür gehängt.

    Ja, wie wird man IS-Metzler? Ihre Hypothese leuchtet ein: Wem Freiheit zur Bedrohung wird, doch in der Tradition seiner Altvordern einen Sicherheitsmacher findet, der greift nach dem Sicherheitsmacher.
    Gerade aus diesem Grund sind auch Einwanderer aus muslimischen Ländern noch in der zweiten und dritten Generation potentiell gefährlich: Eine persönliche Krise, die Peter oder Paul in die Depression oder in die Drogenabhängigkeit treiben wird, kann den muslimischen Nachbar veranlassen, zu einer stärkeren Droge zu greifen. Kann, muss nicht.

    Sehr schön die Ausdrücke: „Wollt ihr den totalen Islam?“ und „Er (Qutb) war ein Beleidigter, aber kein Entrechteter“.

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  3. Vielen Dank, Shanto Trdic, für Ihren tollen Artikel, auch wenn mir der letzte Absatz übertrieben fröhlich erscheint.

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