„Und wenn alle anderen die von der Partei verbreitete Lüge glaubten, wenn alle Aufzeichnungen gleich lauteten, dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde Wahrheit.“
George Orwell
„Das hättet ihr uns auch nicht antun müssen,“ warf die Frau dem jungen Vernehmungsoffizier vor. Denn:“ Wir haben doch schon gebüßt, was wollt ihr noch!“ Ganz klar: ihre ´Befreiung´ hatte sich diese Dame ganz anders vorgestellt. Etwas eleganter vielleicht. Ein klein wenig rücksichtsvoller allenthalben. Dass man sie und etliche ihrer ´Mit-Befreiten´ nun auch noch zur Besichtigung eines Konzentrationslagers zwang, das gleich um die Ecke lag – ging gar nicht. Es gab aber keinen großdeutschen Volksgerichtshof mehr, der dieses Unrecht hätte ahnden können.
Wenn Georg Stefan Troller, dem wir die Anekdote danken, heute darüber spricht, mit seinen bald fünfundneunzig Jahren, nötigt ihm das Erlebte nur mehr ein mildes Lächeln ab. „ Als ich damals nach Deutschland zurück kehrte,“ hatte er schon etwas früher in der ihm eigenen, augenzwinkernden Art bemerkt,“ gab es in Deutschland keine Nazis mehr.“ Also nur noch Befreite. Mochte die Welt in den Jahren der Blitzsiege vor der gewaltigen Kriegsmaschinerie Großdeutschlands bis ins Mark erzittern: nun ging den Elite-Germanen selbst der Arsch vor Angst auf Grundeis.
Richard von Weizsäcker, kürzlich verstorbener ehemaliger Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, meinte (auch) diese Deutschen, als er den Begriff der Befreiung in einer vielgerühmten Rede endgültig salonfähig machte. Seither plappern immer mehr den unseligen, im Grunde abstoßenden Unsinn nach. Demnächst wird die faustgrobe Lüge also als Wahrheit in den Kanon der Geschichte eingehen dürfen: Deutschland und die Deutschen wurden vom Nationalsozialismus befreit. Weiland Weizsäcker, der sich in späteren Jahren mittels feinsinniger ´Rück-Erinnerung´ in einen mitwissenden Quasi-Widerständler verwandelt hat, als einer von den allzu vielen posthumen Duzfreunden des Grafen Stauffenberg (das adelt ungemein): er hatte derlei sprachliche Kollateral-Korrekturen in eigener Sache sicher so richtig nötig. Haben´s die Nachgeborenen womöglich noch viel nötiger? Und was mag das für die weitere Zukunft bedeuten? Wie lange dürfte es dann noch dauern, bis am Ende doch wieder der Jude als Fäden ziehender Satan seine diabolische Fratze entblößt? Seit Jahrzehnten reinkarniert er ja, als ein ewiger welcher, in der Erscheinung Zions auf Erden. Und steht so der Befreiung Palästinas dauerhaft im Wege.
Das deutsche Volk wollte damals gar nicht mehr befreit werden. Es wollte, nachdem der Endsieg in weite Ferne gerückt war, nur noch in Ruhe gelassen werden. Damit war es spätestens nach Stalingrad Essig. Im Osten Teutoniens nahmen die VolksgenossInnen vor ihren ´Befreiern´ vorsorglich Reißaus. Sie, die ab sofort nichts mehr gehört oder gesehen haben wollten, fürchteten sehr berechtigt den Zorn der hunnischen Steppenreiter, die als uniformierte Rotarmisten nun über ihr Land herfielen. Dass den slawischen Untermenschen jenseits der Oder übel mitgespielt worden war wussten ohnehin alle, denn die entsprechenden ´Gerüchte´ waren schon früh durch alle Öffnungen und Ritzen in die heimischen Wohnstuben eingesickert, den heimkehrenden Vaterlandskämpfern sei Dank: wie übler Bratenduft verbreitete sich die Mär davon, und alle hielten sich die Nase zu. Mochten die Brüder und Schwestern im Westen den Einfall der Alliierten immerhin begrüßen, wohl wissend, dass sie am Ende ungleich besser wegkämen als ihre ´LeidensgenossInnen´ in der ostvölkischen Reichsmark: die totalste aller bis dahin totalen Niederlagen blieb auch ihnen nicht mehr erspart.
Entgegen dauernd anderslautenden Bekundungen: den meisten der Total-Besiegten ging es, begleitenden Umständen zum Trotz, bis zum Schluss erstaunlich gut. Einem von Trollers Kollegen fiel sofort auf, wie wohlgenährt und gut gekleidet die erretteten ´Befreiten´ auf ihn und seine Kameraden wirkten:“ Diesen Menschen schien es an nichts zu mangeln.“ Der totale Krieg hatte ihnen eben viel weniger Unbill beigebracht als den davon betroffenen Völkerschaften Rest-Europas, von deren zur Neige gehenden Substanz sie bis zum ´Zusammenbruch´ zehrten. Die deutsche Volksgemeinschaft profitierte davon, dass die Kornkammern im Osten konsequent, wahrlich: ratzekahl leer geplündert wurden. Darum konnten sie sich bis zur Stunde Null so richtig satt fressen. Im Ergebnis bedeutete dies auch, dass die solcherart beraubten Untermenschen noch etwas gründlicher krepieren durften als ohnehin geplant. Erinnert mich ein wenig an das Schicksal der Armenier während des ersten Weltkrieges. Das mit dem osmanischen Reich verbündete wilhelminische Reich tat wenig, eigentlich nichts, um diese Ethnie von dem ihr drohenden Schicksal zu befreien. Der Hungertod tat´s schließlich ganz von selbst. Für die meisten. Der Rest derer, die bis heute nicht als Täter in Frage kommen wollen – auch nix gewusst und nix gesehen – wurde dann von Kemal Atatürk so gründlich vom Joch der Vergangenheit befreit, das schon die bloße Erwähnung des Wörtchens Völkermord bis heute strafrechtliche Verfolgung nach sich zieht. Die Armenier wurden nicht befreit. Man könnte sagen: sie blieben halbwegs übrig.
Die ´befreiten´ Deutschen waren, fand Troller, vor Selbstmitleid triefende, moralisch total herunter gekommene, ganz und gar verächtliche Menschen. Von Schuldbewusstsein keine Spur. Das kam erst viel später. Genug gebüßt und gesühnt! Keine zehn Jahre, und man war wieder wer. Im Westen sorgte ein kolossales Konjunkturprogramm (der Marshall-Plan) nebst günstiger taktischer Justierungen für einen wohlfeilen, wirklich glatten Start, dessen nüchterne Grundierung die Lügenpropagandisten schnell gegen den Mythos vom Wirtschaftswunder eintauschten, welches die Teutonen nur zu gern auf jene sattsam bekannten, sehr deutschen Sekundärtugenden zurück zu führen sich anmaßten; als solche, die ihnen im Ergebnis (und bis heute) so schnell keiner nachmachte. Mochte im Osten, in der sogenannten Zone, manches im Argen liegen: auch diesen ´Befreiten´ ist es, vergleicht man ihr Schicksal mit dem jener Völker und Nationen, die in den übrigen Satelliten des Warschauer Paktes darbten, vergleichsweise gut ergangen. Als die Nachfahren der neuen sozialistischen Menschen in Rostock oder Hoyerswerda noch einmal dazu übergingen, lokale Endlösungen im Handstreich zu improvisieren, wurde das klatschende und grölende Volk erst mit gehöriger Verspätung von einer arg verspätet eintrudelnden Beamtenschaft vom Tatenlosen zusehen befreit. Überhaupt: von der Reichskristallnacht bis zur ´Befreiung´ – sie scheinen, schaut man sich die erhaltenen Bilder und Filme aufmerksam an, immer nur zugeschaut zu haben. So oft, so ausdauernd, so notorisch, das man sich darob unmöglich mehr an lästige Einzelheiten erinnern mochte. Passt also schon.
Rundheraus: Die Deutschen von damals sind nie und nimmer befreit worden. Mochten sie am Ende auch aufatmen, weil sie von einem Krieg genug hatten, den ihr Reich entfesselt und unter gehöriger Anstrengung in zig Ländern hineingetragen hatte: Mit der Behauptung beleidigt, ja verhöhnt man all jene, die als Befreite am bitteren Ende tatsächlich übrig blieben und in Mehrzahl doch noch verreckten. Dazu zählten ein paar wackere Widerständler und der klägliche, schmale Rest jener Lagerinsassen, die Zwangsarbeit und Unterernährung, Folter und Hungermärsche irgendwie überleben konnten. Wie gesagt: Viele waren das nicht mehr. Die allermeisten landeten in den Wochen, die ihrer Befreiung folgten, in eilig ausgeworfenen, noch heute monströs anmutenden Massengräbern. Sie sahen auch gar nicht mehr wie Menschen aus, diese Befreiten. Wer die an Leib und Seele erschöpften, unfasslich abgemagerten und ausgehungerten Gestalten jener Tage heute unter der Überschrift ´Befreiung´ in einem Atemzuge mit jenen Artgenossen genannt wissen möchte, die nichts gehört und gesehen haben wollen, gehört den Piranhas zum Fraß vorgeworfen. Schämt euch, wenn ihr´s noch könnt! Dann aber werden sie, die so tun, schnell die Arme hoch reißen und beteuern, dass es so ja nie und nimmer gemeint gewesen sie. Aber ich verlange, dass gerade hier ein Strich gezogen wird, eine rote Linie, die zu überschreiten Frevel ist und bleibt. Der Name Bergen-Belsen erinnert trennscharf daran, dass es im Frühjahr ´45 Sieger und Besiegte, Täter und Opfer gegeben hat, und wer einmal dort gewesen ist, müsste eine ungefähre Vorstellung davon bekommen haben, was es damals wirklich hieß, befreit worden zu sein. Die meisten der wallfahrenden ´Gewöhnungstäter´ klappern das Terrain ab wie Pauschalreisende auf der schnellen Durchreise.
Ich maße mir gewiss nicht an, den Deutschen ihr menschliches Versagen vorzuwerfen, vorzuhalten. Das nicht. Wie verhielte sich wohl jeder einzelne von uns unter den Bedingungen einer sämtliche Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens umfassenden, einer nahezu alles beherrschenden Diktatur? Ob Mitläufer oder Mitwisser, Mitschweigender oder Mitkrakeelender: den meisten von ihnen mangelte es stets an Einsicht und Ehrlichkeit, ging es um die zwölf Jahre, deren tausend es ursprünglich hatten werden sollen. Tausend Jahre Glück und Segen: wer wollte da noch über Hekatomben von Leichen stolpern, die den Weg ins Paradies pflastern? Ob SS-Scherge Grass oder Generalstabs-Weizsäcker, Schmidt Schnauze oder Tapperts Horst, Nachbars Fritz oder Meyers Gretchen: Sie heuchelten, das sich die Balken bogen. Das werfe ich ihnen vor. Das kann und darf man ihnen vorwerfen. Und das muss man auch denen vorwerfen, die heute von der Befreiung Deutschlands lügen.
Merkwürdig: Das Versagen eines ganzen Volkes wird seit Jahren in endloser Reihe ausgeweidet, bis zum Exzess; gleichzeitig spricht man die Schuldigen immer gnädiger frei. Die jüngsten Machwerke tendieren ganz entschieden in diese Richtung. Im Grunde fing es schon mit Hirschbiegels ´Der Untergang´ an: eine Unheilschwangere, Gefühlsduselnde Nibelungensage, die das gemeine Volk in der Schattenlandschaft einer endlosen Trümmerwüste irrlichtern lässt, die der dem Wahnwitz verfallene Tyrann im rasenden Alleingang inszeniert hat. Jetzt, passend zum erinnerten Kriegsende, häufen sich die Rührstücke und Schmonzetten im Dutzend. Da geben ausgediente Hitlerjungs und in die Jahre gekommene Jungmädel Auskunft über Bombennächte und Vertreibung, und wenn sie von ihrer Angst vor den Russen und den Fanatikern aus den eigenen Reihen schwadronieren, dann schleicht sich statt des schlechten Gewissens fast so etwas wie späte Empörung ein – das hätte man denen auch nicht antun müssen.
Ob später Fanatiker oder verdienter Angst-Bürger: Sie alle sollen heute vor siebzig Jahren im Sinne gründlicher Gleichbehandlung zwangsbefreit worden sein. Irgendwie beschleicht mich der Verdacht, dass den inflationären Bußübungen schon immer eine heimliche Absicht zugrunde lag, die der Gemeinde der Scheinheiligen vielleicht gar nicht auf Anhieb bewusst werden will. Der verlässlich florierende, zunehmend ermüdende Gedenkstätten-Tourismus gleicht einer unverbindlichen, im Grunde überflüssig gewordenen, bequem und verlässlich herunter gespulten Pflichtübung. Die tut gut. Unsere wie am Fließband laufende Erinnerungs(un)kultur offenbart deutlicher denn je die Saturiertheit derer, denen das Einmaleins der Reue Haufenweise aus dem plappernden Gehege plumpst, die gleichzeitig aber kein Problem damit haben, über gezielte Geschichtsklitterung die immerzu beteuerten Mahnmale dezent einzuebnen. Am Ende werden Stolpersteine draus. In der Nähe des Brandenburger Tores laden sie, etwas höher aus dem dumpfen Grund ragend, zum pinkeln ein.
Ich, für meinen Teil, werden heute ganz gewiss nicht in die Glotze schauen. Mir käme die Gülle literweise hoch.
Noch einmal:
Sie wurden nicht befreit.
Sie wurden besiegt.
Total.
Shanto Trdic, 08. Mai 2015
Danke, vielen Dank! Genau so ist/war es. Und auch aus diesem Sich-selbst-Belügen kommt
etliches, was heute in D geschieht, was heute (wieder) möglich ist. Und auch das ist mit ein Grund,
warum D von der Geschichte recht wenig und (teilweise) auch noch das Falsche gelernt haben. – Um
Mißverständnissen vorzubeugen: Ich weiß es sehr wohl, daß in D eine große Menge hoch
anständige Menschen leben. Was ich meine, ist, daß nicht diese die Wortführer sind – weder in der
Politik noch in den Medien. Die Anständigen sind viel zu leise. Wären sie besser zu hören, hätte
D heute ein schöneres Gesicht – das hoffe ich.
lg
caruso
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Ich stimme dem Artikel im Wesentlichen zu, vor allem seiner Intention, halte es aber für sinnvoll, das mit der Befreiung differenzierter zu sehen. Es kömmt nämlich auf die Stoßrichtung an, mit der der Ausdruck gebraucht wird, ähnlich wie bei der Formulierung „Gnade der späten Geburt“. Diese Worte, gesprochen von Helmut Kohl, riefen Missbilligung hervor, da sie in dem Sinne von „ich hab‘ damit nichts mehr zu tun“ ausgelegt wurden. Er kann aber auch bedeuten – und so meinte es Günther Gaus, der diesen Ausdruck zuerst benutzt hat – dass es eben eine Gnade und nicht das eigene Verdienst ist, zu spät für eine aktive Rolle im Dritten Reich geboren zu sein.
Das Wort von der Befreiung lässt sich ebenfalls zweierlei auslegen: Einerseits als „Selbstentlastung“ etwa in dem Sinne, als sei der Nationalsozialismus – in Deutschland selbst, woanders war er es ja – eine Art Fremdherrschaft bzw. Gewaltherrschaft einer kleinen Klicke über das somit gleichsam vergewaltigte deutsche Volk gewesen.
Es ist dies aber nicht die einzige Deutung, und wohl nicht die von Weizsäcker intendierte, wie ich zu dessen Gunsten annehmen möchte. Seinerzeit war die Aussage eine durchaus revolutionäre, die nun gerade „Ewiggestrigen“ nicht gefallen hat, was durchaus für Weizsäcker spricht. Es war eine Abkehr von einer eher negativen Sicht auf die totale Niederlage, eine Hinwendung dazu, den Nationalsozialismus ohne Wenn und Aber als ein Übel zu verdammen, dessen Untergang trotz aller Schrecken, mit denen er verbunden war, dementsprechend eo ipso als etwas Positives zu sehen ist. Die oben erwähnte „Selbstentlastung“ ist gleichsam eine Nebenwirkung von diesem Paradigmenwechsel.
Klar ist, dass aktive Nazis keinesfalls befreit, sondern vielmehr entmachtet wurden. Klar ist aber auch, dass zumindest die Minderheit derer, die gegen das NS-Regime waren, definitiv befreit wurden. Vielleicht kann man das sogar von vielen eher unpolitischen „Volksgenossen“ sagen, die nun nicht länger braune Farbe bekennen mussten, um nicht auf einer schwarzen Liste zu landen. Sie hatten sich zwar schon unter den Nazis nett einrichten können, doch war dies bestenfalls ein goldener Käfig.
Ich neige zu der Formulierung, dass die Niederlage des Dritten Reiches letztlich die Befreiung überwiegend glücklicher Sklaven war, die ja bekanntlich die ärgsten Feinde der Freiheit sind, ähnlich der Befreiung von hirngewaschenen Sektenmitgliedern.
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Im wesentlichen Zustimmung, aber nicht 100% uneingeschränkt (siehe mein etwas ausführlicher Kommentar, der noch in Mod liegt).
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