Im November wird für einen Tag der ermordeten europäischen Juden gedacht. Zuvor wird ein ganzes Jahr lang des großen deutschen Reformators gedacht, ohne dessen Werke man nicht der ermordeten europäischen Juden hätte gedenken müssen. Das ritualisierte Gedenken an die toten Juden ist der Ablass, den Luther einst bekämpft, hier jedoch erwirkt hat. Dank des toten-Juden-Ablasses darf man anschließend geläutert die noch lebenden Juden verdammen. Wäre es nicht besser, das Gedenken an die toten Juden zu beenden?
Seit Einführung der Stolpersteine ist das Gedenken an die unschuldigen toten Juden ein lieb gewonnenes Ritual in jeder Stadt und in jedem Dorf geworden. Niemand will vom Ablass ablassen. Luther hätte dagegen gewettert. Gut, dass er das nicht miterleben muss.
Zuweilen schlägt das Gedenken mit Hilfe von Stolpersteinen unerwartete Kapriolen. Die folgende Geschichte hat sich tatsächlich ereignet und ereignet sich weiterhin. Ich werde sie dem interessierten und geneigten Leser nicht vorenthalten.
Stolpersteine sind in Deutschland en vogue. Sie zeigen, dass die gewählten Geschickelenker, die zuverlässigen Verwaltungen und zuweilen auch die Bürger der Kommune, ob Stadt oder Dorf, sich selbst 70 Jahre nach Ende des Unrechts sich des Unrechtes bewusst sind. So ein Unrecht darf sich nicht wiederholen und wird sich auch nicht wiederholen! Zumindest nicht in den abgelegenen Dörfern, wo keine Juden leben.
Die Faustregel lautet, dass die Zahl der Stolpersteine sich umgekehrt proportional zur Zahl der lebenden Mitwisser verhält. Je weniger potentielle Täter noch leben, desto üppiger sprießen die Messing glänzenden Steinchen. An manchen Orten – meist Dörfer – dürfen die Steine an bestimmten Stellen nicht ihre Pracht ausbreiten, so vor Häusern, die einst Juden für billig Geld abgekauft oder gleich gestohlen worden sind und in denen die Nachkommen der Käufer heute noch angenehm leben, während die sterblichen Überreste der einstigen jüdischen Besitzer sich in Rauch aufgelöst haben. Ein neuer Geschäftszweig entwickelt sich: Heute gewähren Dorfkirchen den abgelehnten Stolpersteinen ein ewiges Kirchenasyl.
Unser Dorf, welches im Zentrum des Geschichte steht, hat vor langer Zeit seine Selbstständigkeit verloren, der die Bewohner weiterhin nachtrauern. Das Dorf kann keine eigenen Juden – weder lebende, noch vertriebene, noch ermordete – vorweisen, weshalb es unter dieser Benachteiligung leidet. In anderen Städten und Dörfern der nahen und weiten Umgebung richten die Fußgänger zuweilen ihre Blicke zu Boden, um die ins Messing eingeritzte Worte zu entziffern. Der Hauptort unseres Dorfes weist viel mehr Stolpersteine auf. Wegen Raumknappheit entziehen sich dort manche Stolpersteine unter Tischen und Bänken den neugierigen Blicken. Leider nicht so in unserem Dorf! Denn da das Dorf niemals Juden beherbergt hat, gilt es zu Recht als judenfreundlich. Ganz im Gegensatz zu den anderen eingemeindeten Ortschaften. Hier hat man alles unternommen, damit unerwartet aus dem Holocaust zurückgekommene Juden wieder verschwinden, noch bevor sie irgendwelche Ansprüche erheben. Doch seit zwei Jahren, im Jahre 2015, ist die Leidenszeit unseres Dorfes endlich beendet: Sechs güldene Stolpersteine glänzen in der Sonne im Bürgersteig der Hauptstraße. Da die Stolpersteine ohne ausreichend sorgfältige Recherchen verlegt werden, müssen sie einmalig umgebettet werden.
Wer sind die sechs Unglücklichen und wie ist es ihnen ergangen?
Es handelt sich um eine Familie, bestehend aus Vater, Mutter und vier Kindern, die von J., in dem damals viele Juden leben, in unser etwa 100 km südlich liegende Dorf übersiedelt. Dies hat der ortsansässige Dorfchronist herausgefunden und aufgeschrieben. Offiziell zieht die Familie wegen der neuen Arbeitsstelle des Vaters um, doch dies kann oder darf nicht die ganze Wahrheit sein. Denn die Familie verlässt J., da dieser Ort laut Chronisten eine Nazihochburg ist. Der Dorfchronist, der über rudimentäre Kenntnisse der jüdischen Theologie verfügt, stellt außerdem fest, dass die Mutter eine Jüdin gewesen ist. „Folglich waren auch ihre Kinder Juden.“, legt er fest.
Darüber ließe es sich unter Unwissenden trefflich streiten. Glücklicherweise haben echte Rabbiner über Jahrhunderte die Bedingungen zusammengetragen, wer Jude ist und wer nicht. Meinungen eines christlichen Dorfrabbiners tauchen im Talmud nicht auf.
Um einen Stolperstein im Gehweg zu erhalten, ist es letztendlich nicht ausschlaggebend, ob Mutter und/oder Kinder nach der jüdischen Halacha, was dem christlichen Katechismus oder der muslimischen Scharia entspricht, Juden sind oder nicht. Entscheidend ist die Festlegung laut nationalsozialistischer Rassenlehre, ob jemand Voll-, ½– oder ¼-Jude ist und somit überleben darf oder nicht. Stolpersteine sind auch nicht für Juden reserviert, sondern sollen an das Schicksal aller Menschen erinnern, die in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt, ermordet, deportiert, vertrieben oder in den Suizid getrieben werden. Selbst einige Zigeuner werden mit Stolpersteinen bedacht!
In der Nazizeit fliehen die Juden von J. ins Ausland oder werden im KZ ermordet. Unsere Familie aus J. flieht in das 100 km entfernte Dorf, welches schon immer judenfrei gewesen ist. Dort überleben sie Nationalsozialismus und Krieg mit Hilfe von Freunden und eines NSDAP-Parteigenossen. Nach Kriegsende verlässt die Familie unser Dorf und kehrt komplett nach J. zurück, welche nach dem verlorenen Krieg keine Nazihochburg mehr sein darf.
Das jüngste Kind der Familie, ein Sohn und jetzt über 80 Jahre alt, besucht vor Kurzem unser Dorf, welches sein Geburtsort ist. Unvorbereitet blickt er nicht nur auf die Stolpersteine seiner zwischenzeitlich verstorbenen Familienangehörigen herab, sondern auch überrascht auf seinen eigenen Stolperstein. Bei angeschlagener Gesundheit beschließt er, seinen Geburtsort nicht erneut aufsuchen.
Stolpersteine erfüllen eine Funktion. Man möchte – wozu auch immer – dazu gehören. Jeder Flüchtling ist Flüchtling, auch wenn die Flucht nach weniger als 100 km endet. Bis heute lieben wir in ganz Deutschland Flüchtlinge. Der toten Flüchtlingen wird gedacht, den lebenden Flüchtlingen wird geholfen. Auch heute noch profitieren Flüchtende nach Deutschland daran, dass jeder Flüchtende an Juden erinnert.
Zu guter Letzt muss noch eine Besonderheit erwähnt werden: Unter dem Namen und Geburtsjahr lautet die letzte Zeile aller Stolpersteine in unserem Dorf gleichlautend:
Mit Hilfe überlebt
Das lässt sich präzisieren, denn wird wissen ja vom peniblen Dorfchronisten, wer den Flüchtenden in der Not geholfen hat. Wir wollen den folgenden Generationen die unangenehme Wahrheit nicht vorenthalten und schlagen folgende Veränderung vor:
Mit Hilfe von Freunden und eines anständigen Nazis überlebt
Postskriptum:
Die jüdische Mutter ist eine geborene Falkenstein. Nach ihrer Familie wird in J. eine ganze Straße benannt, nicht nur ein billiger Pflasterstein wie in unserem Dorf.